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Odins Preis, den er für Weisheit bezahlte

Und so reitete Odin nicht mehr auf Sleipner, seinem achtbeinigen Ross; trug nicht mehr seine goldene Rüstung und seinen Adlerhelm. Und sogar ohne seinen Speer in der Hand, reiste er durch Midgard, die Welt der Menschen, und machte seinen Weg nach Jötunheim, dem Reich der Riesen.

Er nannte sich nicht mehr Odin Allvater, sondern Vegtam der Wanderer. Er trug einen dunkelblauen Umhang und einen Reisestab in seinen Händen. Und so machte er sich auf zur Quelle der Weisheit am Fusse des Weltenbaumes Yggdrasil mit der Absicht, von ihr zu trinken. Die Quelle wurde bewacht von Mimir, dem Riesen.

Odin ging auf den Riesen zu und sprach: „Guten Tag Riese. Ich bin Vegtam, der Wanderer und komme von weit her zu Dir.“
Mimir blickt ihn mit zugekniffenen Augen an, begann zu grinsen und antwortete: „Für wen hältst Du mich, Allvater? Denkst Du ich würde den Höchsten der Asen, Odin persönlich, nicht erkennen?“
Odin war überrascht und auch verärgert, dass er erkannt worden war, riss sich aber umgehend wieder zusammen: „Du weisst in der Tat eine Menge, Riese.“
„Um Dich zu erkennen, braucht es keine Weisheit“, grinste Mimir.
Odin antwortete forsch: „Na schön. Dann behandle mich wie einen normalen Gast und biete mir etwas zu trinken an.“

„Sehr gerne“, antwortete der Riese übertrieben freundlich und ging voran, worauf Odin ihm folgte. Das Rauschen der Quelle wurde hörbar und Odins Gesicht erhellte sich. Doch Mimir blieb abrupt stehen und drehte sich zu Odin um: „Reich mir Dein Horn, Allvater.“ Der Obergott verstand nicht. Mimir blickte ihn an: „Du sagtest doch, Du hast Durst“.

Odin reichte ihm immer noch verständnislos sein Trinkhorn, worauf der Riese es an einem Wasserlauf an einem Felsvorsprung auffüllte und ihm hinstreckte. Sie gingen weiter in einen Hof, wo der Göttervater sofort die Quelle der Weisheit erkannte und sehnsüchtig zu ihr hinüberschaute. Mimir steuerte jedoch auf einen Tisch mit zwei Sitzbänken zu und setzte sich hin. Auch Odin setzte sich widerwillig zu ihm.

„Weshalb trinkst Du nicht Allvater? Schmeckt Dir mein Wasser nicht?“, fragte der Riese, nachdem Odin keine Anstalten machte, aus seinem Horn zu trinken. „Es ist nicht ganz mein Fall“, antwortete Odin gespielt. „Ich möchte lieber vom Wasser dort hinten“, und er zeigte auf die Quelle der Weisheit.

Auf Mimirs Gesicht erschien ein breites Grinsen. „Warum belügst Du mich, Odin? Warum sagst Du mir nicht gleich, dass Du von meiner Quelle trinken willst?“
Odin wirkte ertappt: „Hättest Du mich den trinken lassen?“
„Auf keinen Fall!“, antwortete Mimir lautstark und mit Genuss.
Nun wurde Odin wütend: „Pass‘ auf Riese! Hier steht der oberste Gott der Asen vor Dir!“
„Das ist meine Quelle und hier gelten meine Regeln. Und diese gelten für jeden“, entgegnete der Riese klar. „Und warum überhaupt willst Du, Göttervater, älter als alle Wesen des Weltenbaumes, unbedingt von dieser Quelle trinken?“
Odins Stimme wurde leiser: „Das kann ich Dir nicht sagen.“
„Dann wirst Du auch nicht von ihr trinken“, antwortete Mimir.

Odin rang offensichtlich mit sich selbst und Mimir schien den Moment auszukosten. Dann begann er mit Schwermut zu sprechen: „Du weisst, wer meine Frau ist?“
„Ja, Frigg“, antwortete der Riese.
„Und was ist besonders an ihr?“
„Sie spinnt die Schicksalsfäden und kann deshalb die Zukunft voraussehen?“, antwortete Mimir fragend.
„Ja genau das ist es! Meine Frau weiss alles, noch bevor es passiert. Und was denkst Du, wie es ist, mit einer Frau zu leben, die alles schon im Voraus weiss?“

Mimir verstand und hatte sichtlich Mitleid mit dem Göttervater. Dies hatte er sich noch nie überlegt: „Und deshalb tust Du all diese Dinge, wie dich tagelang an einen Baum zu hängen, um ihr ebenbürtig zu sein?“
„Ja klar, was meinst Du denn? Und deshalb muss ich aus dieser Quelle trinken!“ Odin zeigte zur Quelle der Weisheit. Mimir schwieg eine Weile. Dann hatte er eine Idee.
„Du hast bewiesen, dass es Dir mit der Weisheit ernst ist und Du bereit bist, Opfer zu bringen“, sagte der Riese und fuhr fort: „Aber ich vertraue Dir nicht, dass Du mit Deinem Wissen verantwortungsvoll umgehen kannst. Deshalb will ich einen Pfand. Etwas, das etwa genau so wertvoll ist.“
„Und was wäre das?“, fragte Odin.
„Dein linkes Auge.“
Odin schluckte. Mimir sprach weiter: „Ich hebe es auf, so lange Du lebst. Gegen Ende Deines Lebens bekommst Du es zurück.“

Odin erstarrte. Er wusste, mit nur einem Auge würde er von seinem Thron aus die neun Welten nicht mehr überblicken können. War es diesen Preis wert? Aber all das kannte er schon, ein Schluck aus der Quelle hingegen… was für eine schwere Entscheidung. Odin wurde wütend. So wütend, dass er fast zerplatzte. Wütender als die Angst, sein Auge zu verlieren.

Sprachlos vor Erstaunen und auch entsetzt starrte Mimir auf das kleine Steinbecken der Quelle und darin tanzte etwas: Odins Auge. Mimir brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. „Ich werde… sicher… gute auf dein Auge aufpassen“, stammelte er.

Dann nahm er Odins Horn vom Tisch, füllte es mit dem Wasser aus der Quelle der Weisheit und überreichte es ihm. Odin trank das ganze Horn wortlos in einem Zug leer – und er nickte. Trotz des Schmerzen breitete sich ein breites, sehr zufriedenes Grinsen auf seinem blutüberströmten Gesicht aus. Er nickt nochmals.
„Es wirkt.“

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