Es ist November 2021. Nach eineinhalb Jahren Ausnahmezustand scheint eines klar: Wir sind nicht in der Lage, die Realität genügend zu erfassen geschweige denn brauchbare Zukunftsprognosen oder gar Lösungen zu liefern. Verzweifelt versuchen wir, Herr der Lage zu werden, mit Massnahmen, welche jeden einigermassen wachen Beobachter mit einem weinenden und einem lachenden Auge zurücklassen. Massnahme A funktioniert nicht? Dann braucht es mehr von Massnahme A! Krampfhaft soll die Kontrolle wiedergewonnen werden, welche wir mal zu haben dachten.
Eine lineare Maschine
Evolutionär oder unternehmerisch betrachtet scheinen die nächsten Schritte auf der Hand zu liegen: Wenn die bisherigen Ansätze nicht funktionieren, so braucht es andere. Funktionieren diese immer noch nicht, so gilt es die dahinterliegenden Prämissen, also das Paradigma in Frage zu stellen. Ein herrschendes Paradigma, welches längst falsifiziert ist und sich dennoch zäh in unserer Gesellschaft hält, ist das mechanisch-lineare Weltbild. Egal ob in der Medizin, in der Wissenschaft oder bei politischen Entscheidungen – man geht davon aus, eine Art Maschine vor sich zu haben mit linearen Ursache-und-Wirkungs-Prinzipien. Die Vorstellung ist, es gäbe einen statischen Bauplan. Und wenn man diesen verstanden hat, dann kann man mit den richtigen Massnahmen die Maschine so beeinflussen, wie man es sich wünscht. Wir glauben, wir stehen vor einem komplizierten Problem. Viele Einflussfaktoren mit allerlei Abhängigkeiten. So wie ein Flugzeug mit zehntausenden von Teilen, welche alle einen definierten Ort haben.
Ein Teller Spaghetti
Die Realität, die sich uns zeigt, ähnelt jedoch einem Teller Spaghetti weitaus mehr als einem Flugzeug. Es handelt sich um ein komplexes Problem. Die Abhängigkeiten sind so vielfältig und die Dynamik des Gesamtsystems so ausgeprägt, dass wir unmöglich voraussagen können, was passiert, wenn wir an einer Spaghetti ziehen. Die gegenwärtige Situation führt uns vor Augen, dass wir einen Teller Spaghetti mit einer Werkzeugkiste für Flugzeuge in Ordnung bringen wollen. So betrachtet ist dies offensichtlich verwunderlich. Noch verwunderlicher ist es, als dass die Vorstellung einer mechanisch-linearen Realität seit bald 100 Jahren überholt ist. Einstein und die Erkenntnisse der Quantenphysik haben uns längst gezeigt, dass wir es mit einem Netzwerk aus Abhängigkeiten und Wahrscheinlichkeiten zu tun haben, das sich selbst permanent verändert und weder den Gesetzen von Raum noch Zeit unterliegt. Bereits bei dieser Vorstellung ist so mancher Verstand überfordert und darin liegt die letzte Konsequenz: Weder unser Verstand noch der leistungsfähigste Computer können die Realität abbilden oder vorhersagen, was passieren wird.
Sprache ist ein Gefängnis
Der Verstand ist aber nicht nur unfähig, die Zukunft vorherzusagen, sondern genauso ungeeignet, die gegenwärtigen Probleme zu lösen. Einstein erkannte bereits: «Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind». Innerhalb der bestehenden Denkmuster kann nämlich per Definition nichts Neues entstehen, einzig das Bestehende kann neu kombiniert werden. Es ist wie eine mathematische Gleichung: Ich kann die Unbekannte «x» nur mit Hilfe bereits bekannter Grössen errechnen. Steht «x» für ein neues Paradigma ausserhalb des Bekannten, so lande ich bestenfalls bei x=±∞ (plus minus unendlich – also alles). Mathematisch schön, als Lösung unbrauchbar und eine wunderbare Beweisführung dahingehend, dass das Denken erkennt, dass es aufgrund seiner Muster das Problem nicht lösen kann. Und was definiert unsere Denkmuster? Unsere Sprache. Sprache unterteilt die Welt in Einzelteile und Kategorien. Sie ist ein messerscharfes Instrument – ein Skalpell. Niemand würde mit einem Skalpell versuchen, etwas Neues zusammenzusetzen. Dafür eignen sich andere Werkzeuge.
Intuition als Werkzeug
Die Neurobiologie unterscheidet klar zwischen jenem Teil des Gehirns, welcher Sprache benutzt und versteht, und jenem weitaus grösseren Teil, der diese nicht versteht. Man spricht von Bewusstsein und Un(ter)bewusstsein oder auch Verstand und Intuition. Hierbei geht man davon aus, dass höchstens 20% Verstand und mindestens 80% Intuition sind. Versuche ich Probleme ausschliesslich über den Verstand und Sprache zu lösen, nutze ich somit nicht nur ein ungeeignetes Werkzeug, sondern schliesse auch 80% meines (Gehirn-)Potenzials aus. Sämtliche Kreativitätsmethoden versuchen genau diesen Raum zur Intuition zu erschliessen und Menschen in einen Zustand zu bringen, wo sie empfänglich für Bilder aus dem Unbewussten werden. Weil wir es eigentlich längst wissen, dass wir mit dem Verstand nicht weiterkommen, sind Begriffe wie die Intuition, Achtsamkeit und Resilienz mittlerweile in der breiten Gesellschaft und auch in der Arbeitswelt angekommen.
Haben wir den Verstand verloren?
Wir sind in den Kinderschuhen, die Welt der Intuition zu entdecken. Zur Zeit versuchen wir noch etwas hilflos, das unheimliche und unkontrollierbare Unterbewusste mit dem Verstand zu erfassen und in unsere gewohnte Welt zu integrieren. Wir versuchen Brücken zu bauen. Das Resultat davon sind beispielsweise Modelle wie VUCA oder BANI. Wichtige Brücken sind auch die Quantenphysik und die Neurobiologie. Auch dieser Text ist der Versuch einer solchen Brücke. Diese Brücken sind dienlich für erste Erkundungen. Und doch sind sie am Ende nicht zielführend. Denn eine Brücke, welche mit dem Verstand gebaut wird, kann am Ufer der Intuition gar nicht ankommen. Es bleibt uns nur der mutige Sprung ins Unbekannte. Es bleibt uns nur, die gewohnte Welt der Sprache und des Verstandes zu verlassen. Was heisst das? Kannst du dir vorstellen, Entscheidungen ohne Denken zu treffen und diese bedingungslos umzusetzen? Hast du den Verstand verloren? Hoffentlich! Und wie verlieren wir den Verstand als Individuum, als Gruppe, als Unternehmen? Glücklicherweise gibt es Wege, die Verstand zu verlieren und die Tore zum Unbewussten zu öffnen. Die Entscheidung dazu ist der erste wichtige Schritt.